Pfälzische Sprachinsel

am Niederrhein


Text:  Sonja Raimann | NiederRhein Edition, Ausgabe  01/2014

Jeder von uns kennt die Bilder aus den Nachrichten. Weltweit machen sich jedes Jahr tausende von Menschen auf den Weg in eine vermeintlich bessere Zukunft. Getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und ihre Kinder nehmen sie dafür jede Strapaze in Kauf. Oft legen sie mehrere tausend Kilometer zu Fuß durch Wüsten und Gebirge zurück, um dann ihr letztes Geld unglaubwürdigen Menschenhändlern zu geben, die versprechen, sie ins „gelobte Land“, in ein besseres Leben nach Europa oder Amerika zu bringen. Auch wenn viele diese Odyssee mit dem Leben oder mit einem Leben in der Illegalität bezahlen. Selbst wenn sie aufgegriffen und zurückgeschickt werden – sie nehmen es in Kauf, und sie versuchen es wieder, denn alles ist besser als in der eigenen, geliebten Heimat vor die Hunde zu gehen. Eine schreckliche Tatsache, die sich in allen Jahrhunderten zu wiederholen scheint.


Religiöse Gründe und wirtschaftliche Nöte, die zur Verelendung vieler Bauern führten, waren auch vor über 250 Jahren die Beweggründe von über 200 Pfälzern, ihrer Heimat den Rücken zu kehren. Sie wollten es den Scharen von Auswanderern gleichtun, die ebenfalls nicht bereit gewesen waren ihrem evangelischen Glauben zu entsagen und dem sicheren Hungertod ins Auge zu blicken. Ihnen wollten sie es gleichtun und den Rhein hinab nach Holland fahren, um von dort aus über den großen Ozean nach Amerika zu segeln. Ihr Ziel: Pennsylvania, der Zufluchtsort vieler religiöser Flüchtlinge zu jener Zeit.

Von Bacharach aus machten sich die Pfälzer auf drei großen Rheinschiffen auf die Reise Richtung Rotterdam. Von dort aus sollte es mit englischen Schiffen weitergehen in die neue Heimat. Der seit 1739 herrschende Seekrieg zwischen England und Spanien sollte ihnen jedoch einen Strich durch ihre Pläne machen. Die Überfahrt englischer Hafenschiffe nach Nordamerika wurde quasi über Nacht stark eingeschränkt – nur noch wenige Schiffsreeder wagten es, Ware oder Menschen über den Atlantik zu transportieren. Hunderte Auswanderer, die keine Überfahrt mehr bekamen oder deren Überfahrt gestrichen wurde, saßen nun in den Hafenstädten Rotterdam und Amsterdam fest. Aufgrund der heillosen Überfüllung und die damit verbundenen chaotischen Verhältnisse, erließ die holländische Regierung ein Verbot: Per sofort durfte nur noch derjenige über die Grenze gelassen werden, der mit einem beglaubigten Dokument seine Passage nachweisen konnte, und vor allem, dass er sofort nach Ankunft in einer der beiden Hafenstädte weiterreisen würde. Als sich nun die drei Rheinschiffe mit den auswanderungswilligen Pfälzern an Bord im Frühjahr 1741 auf den Weg machten, kannten weder sie noch die preußische Regierung den Erlass der holländischen Regierung. So erreichten sie unbehelligt im Mai desselben Jahres den niederrheinischen Grenzort Schenkenschanz. Und hier war Schluss. Die dortigen Grenzbeamten verlangten von den Reisenden den Überfahrtskontrakt, die gesetzliche Legitimation zur Weiterfahrt, über die allerdings keiner der Pfälzer verfügte. Unwissenheit schützt nicht vor Strafe und so wurde ihnen die Einfahrt über die holländische Grenze verwährt.

Gestrandet am Niederrhein

Die Pfälzer saßen an der Grenzstation fest. Den Schiffern war dieser unverhoffte Aufenthalt logischerweise nicht angenehm. Sie wollten die Rückfahrt antreten und so forderten sie die Emigranten auf zu bezahlen und die Schiffe zu verlassen. Diese weigerten sich allerdings. Schließlich hatten sie vertraglich vereinbart, dass man sie nach Rotterdam bringen würde und auch erst da müssten sie bezahlen und von Bord gehen. Die Pfälzer hielten die Schiffe besetzt. Wer möchte es ihnen verübeln, waren doch die Schiffe ihre einzige Zuflucht und auch immer noch verbunden mit dem letzten Fünkchen Hoffnung, doch noch eine Genehmigung zur Weiterfahrt zu erlangen. Als die Auseinandersetzung zu eskalieren drohte, wandten sich die Schiffer in ihrer Not an den preußischen Richter Gesellschap. Aber auch der konnte gegen die aufgebrachten Pfälzer nichts ausrichten. Erst die nächst höhere Instanz, die Kriegs- und Domainkammer in Kleve vermochte es, die Auswanderer unter Androhung von Strafe dazu zu bringen die Schiffe zu verlassen.

Am 17. Juli verließen die unfreiwillig Gestrandeten mit ihren wenigen Habseligkeiten die Schiffe und richteten noch am selben Tag ihrerseits eine Bittschrift an die Kriegs- und Domainkammer in Kleve. Die Pfälzer teilten mit, sie hätten sich entschlossen in preußischen Landen anzusiedeln und baten darum, ihnen „... ein Stück wüst Land zur Bebauung und Bewohnung anweisen zu lassen...“. Die Kammer wollte helfen und  richtete die Anfrage an die Städte Kleve, Emmerich, Huissen und Goch. Der Magistrat von Kleve lehnte den Ersuch postwendend ab. Schließlich hätten die Einwohner im Winter selbst kaum Arbeit, so dass man nicht noch andere arme Leute aufnehmen könnte, die dann der Stadt und Bürgerschaft zur Last fallen würden. Außerdem hätte der König unlängst befohlen, Fremde nur dann aufzunehmen, wenn sie über ein Vermögen von mindestens 200 Reichstahler verfügten. Auch Huissen sah keine Möglichkeit den Pfälzern zu helfen.

Seit ihrer unfreiwilligen Anlandung am Niederrhein waren mittlerweile mehr als  zwei Monate ins Land gegangen. Den Pfälzern drohte auch noch das letzte bisschen Barbesitz auszugehen, als endlich ein positiver Bescheid aus Goch eintraf und man ihnen die etwa 130 Hektar zählende „Gocher Heide“ zur Besiedlung anbot. Nach einer ausreichenden Besichtigung und Begutachtung des Geländes überreichten die Pfälzer dem Rat eine Liste der Familien, die sich dort niederlassen wollten und im August wurde von der Stadt Goch und ihnen der Entwurf eines Erbpachtvertrages erstellt. Die Euphorie war groß und so zogen die Kolonisten auf die Heide um mit der Rodung zu beginnen. Primitive Erdhöhlen reichten ihnen als Behausung,  schließlich hofften sie, bald mit dem Bau von Häusern beginnen zu können.

Niemand konnte ahnen, dass der Winter viel zu früh kommen, den Bau adäquater Unterkünfte verhindern und auch noch eine Nervenfieber-Epidemie mit sich bringen würde, der zahlreiche Siedler erlagen. Viele der Pfälzer suchten daraufhin Unterschlupf in den Notquartieren der Stadt Goch. Schnell empfand man sie hier allerdings als lästiges Übel. Man wollte sie möglichst rasch wieder los werden und am liebsten des Landes verweisen. Man ersuchte sie sogar, ihre geplante Reise nach Pennsylvania fortzusetzen.

Der "Alte Fritz" erklärt die Pfälzer am Niederrhein zur Chefsache

In ihrer Verzweifelung wandten sich die Pfälzer nun auf direktem Weg an den König, Friedrich den Großen. Sie schickten zwei Männer aus ihren Reihen nach Berlin und einen Monat später kamen diese tatsächlich mit einem Dokument des Königs zurück,  welches ihre Ansiedlung in der Gocher Heide ausdrücklich bestätigte und befahl, die Siedler zu unterstützen. Dieses Schreiben bewirkte Wunder und führte vor allem zu einer völlig anderen Behandlung der Kolonisten durch die ortsansässigen Behörden. Plötzlich war jegliche Art der Hilfe möglich. Die Niedergeschlagenheit wich und mit neuem Mut und der unumstößlichen Gewissheit hier endlich ihre neue Heimat gefunden zu haben,  führten die Pfälzer ihre begonnene Arbeit fort.  Sie verwandelten immer mehr Heide in Ackerland und auch der Hausbau ging jetzt gut voran.

Die Nachricht vom Gedeihen der Kolonie am Niederrhein lockte immer mehr Nachzügler aus der Pfalz an. So bildete sich allmähliche eine Ortschaft, die von der Regierung 1747 unter dem Namen Pfalzdorf anerkannt wurde. Weitere Kolonisten aus der Pfalz folgten und schon 1770 war die Gocher Heide vollständig besiedelt. Nachkommende Pfälzer mussten nun andernorts angesiedelt werden, z.B. auf der Asperdener Heide oder der Bönninghardt. Anderen wurde Siedlungsland in Ostfriesland zugeteilt, das aufgrund eines Erbvertrages an Preußen gegangen war und somit in die preußische Binnenkolonisationspolitik einbezogen wurde und weitere Heide- und Moorgebiete zur Ansiedlung stellte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war aber auch der ostfriesische Siedlungsraum erschöpft. Der Ansturm der pfälzischen Auswanderer jedoch nicht. Also beschloss man am Niederrhein die Besiedlung des Kalkarer Waldes. Auf Wunsch der dortigen Siedler und zu Ehren der Königin wurde die neue pfälzische Kolonie am Niederrhein Louisendorf genannt. Auch das Gebiet, das die Siedlung Louisendorf umfasste, war bald restlos vergeben und so plante man 1832 eine Erweiterung des Gebietes. Daraus entwickelte sich, anders als geplant, das eigenständige Gemeinwesen Neulouisendorf.


Zeitgenössisches Porträt Friedrichs II. von Preußen: Das Porträt entstand 1763 auf Schloss Salzdahlum, dem Sommersitz der Schwester von Friedrich II., Herzogin Philippine Charlotte von Braunschweig. Es handelt sich um das einzige Porträt zu dem Friedrich II. während seiner Regierungszeit für Johann Georg Ziesenis Modell gesessen hat. Das Porträt wurde am Samstag, 10. Oktober 2009 im Auktionshaus Bolland & Marotz in Bremen für EUR 670.000 verkauft. Das Bild wird als deutsches Kulturgut eingeschätzt, weshalb es auch nach dem Verkauf in Deutschland verbleiben musste.

Friedrich II. oder Friedrich der Große (* 24. Januar 1712 in Berlin; † 17. August 1786 in Potsdam), volkstümlich der „Alte Fritz“ genannt, war ab 1740 König in, ab 1772 König von Preußen und ab 1740 Kurfürst von Brandenburg. Er entstammte der Dynastie der Hohenzollern. Friedrich gilt als ein Repräsentant des aufgeklärten Absolutismus. So bezeichnete er sich selbst als „ersten Diener des Staates“.[1] Er setzte tiefgreifende gesellschaftliche Reformen durch, schaffte die Folter ab und forcierte den Ausbau des Bildungssystems.


Fern der Heimat blieben die Pfälzer ihrem protestantischen Glauben und ihrer Mundart treu und grenzten sich so auch vom katholischen Umland ab. Schon bald gab es die erste eigene Kirche und bis 1940 sogar eine eigene Volksschule, wo sie ihren Kindern ihre Traditionen und Brauchtümer vermittelten und vor allem dafür sorgten, dass ihre Sprache nicht in Vergessenheit geriet. Auch in Heiratsangelegenheiten blieb man unter sich, so dass man schon bald von der „pfälzischen Sprachinsel am Niederrhein“ sprach und auch heute noch spricht.

Im Laufe der Jahrhunderte verwandelte sich die Mundart in einen Generaldialekt, in den auch die Merkmale der umliegenden niederfränkischen Dialekte aufgenommen wurden, der so schon lange nichts mehr mit den Dialekten zu tun hat, die wir heutzutage der Pfalz zuordnen würden. Über die Jahrhunderte ist ein ganz eigener Dialekt entstanden, den die pfälzischen Auswanderer durch ihr „Insel-Leben“ am Niederrhein, ebenso wie ihr Brauchtum, gehegt, gepflegt und kultiviert haben. Heute wird das „Pälzersch“, wie die niederrheinischen Pfälzer ihren Dialekt nennen, noch regelmäßig von vielen älteren Einwohnern gesprochen. Der Jugend wird er meist mit der Einschulung abgewöhnt, denn dann wird zum Hochdeutsch gewechselt und wenn zuhause die Mundart nicht gepflegt wird, geht es dem „Pälzersch“ wie vielen anderen Dialekten und er gerät nach und nach in Vergessenheit. Zum Glück gibt es Kulturvereine und Sprachwissenschaftler die sich dafür einsetzen, das das Vergessen nicht überhand nimmt. Und der Singsang in unserer Sprache verrät uns Niederrheiner ja dann doch wieder – egal wie bemüht wir auch sind Hochdeutsch zu sprechen.

www.pfalzdorf-nrw.de

[Quelle: „Sprach- und Gründungsgeschichte der pfälzischen Colonie am Niederrhein“ von Emil Böhmer, Hrsg. N.G. Elwert, Marburg 1909]

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