Rund um Niederkrüchten kann man Geschichte erwandern und „erfahren“!

Besondere Wander- und Radrouten

2022 hat Niederkrüchten sein 50. Gemeindejubiläum gefeiert und sich selbst ein originelles Geschenk gemacht: eine Wander- und Radroute unter dem Motto „Geschichte erfahren“. Gemeinsam mit Wanderführer Bernd Nienhaus und Frank Grusen, der sich in Niederkrüchten neben der Wirtschaftsförderung auch um Tourismus und Öffentlichkeitsarbeit kümmert, hat unsere Autorin Petra Verhasselt einen Teil dieser Route, die in Zusammenarbeit mit der Nachbargemeinde Brüggen entstanden ist, kennengelernt und dabei auch die Thementour „Grenzgeschichte(n)“ mit bewegenden Schauplätzen aus den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges erwandert.

Unser Treffpunkt ist der Wanderparkplatz »Am Lüsekamp« im Naturschutzgebiet Lüsekamp und Boschbeek, nahe des deutsch-niederländischen Grenzübergangs Elmpt/Maalbroek. Unsere Route wird uns an ehemaligen Bunkern, Flakstellungen sowie Panzer- und Schützengräben vorbeiführen, die sich auf den ersten Blick in der Natur zu verstecken scheinen, als wollten sie das sprichwörtliche Gras über die schreckliche Vergangenheit wachsen lassen. Aber weil dieser Teil der Geschichte zu Niederkrüchten und den angrenzenden Ge-meinden gehört, ist es umso wichtiger, ihn wieder sichtbar zu machen. Wanderführer Bernd Nienhaus nennt das Stichwort „Erinnerungskultur“.

Während wir an einem alten Schützengraben vorbeigehen, erzählt er so lebendig von den menschlichen Schicksalen des Zweiten Weltkriegs, dass man sie sofort vor Augen hat: „Diese Gräben sind vorwiegend von Zwangsarbeiterinnen angelegt worden. Ab September 1944 kamen per Viehwaggons über 7.000 Menschen, darunter viele Frauen, aus den Ostgebieten, unter anderem aus Polen, der Ukraine, Weißrussland und Russland hierher. Sie fanden eine spartanische Bleibe auf Bauernhöfen, wo sie teilweise unter freiem Himmel schliefen. Die Lebensbedingungen waren erbärmlich: Es gab wenig zu essen, von vernünftiger Hygiene ganz zu schweigen. Jeden Morgen wurden die Zwangsarbeiter von Soldaten, Angehörigen der paramilitärischen Bautruppe „Organisation Todt“ und SA-Männern mit Schubkarren, Schaufeln und Spaten in den Wald geschickt, um Panzergräben auszuheben.“

Perfide sei die Tatsache gewesen, dass diese Gräben, für die tausende Menschen wochenlang geschuftet hatten, um die vorrückenden Panzer und die begleitende Infanterie der Alliierten zu bekämpfen, zu dem Zeitpunkt überhaupt keinen Sinn mehr machten. Die Amerikaner hatten nämlich entschieden, dass sie gar nicht durch dieses Gelände gehen wollten. Bernd Nienhaus erläutert, was stattdessen geschah beziehungsweise nicht geschah: „Die Amerikaner wollten über den südlichen Abschnitt der Westfront gehen, über die Rur. Deshalb hat es bei uns keine Kampfhandlungen gegeben, und das nahegelegene Roermond und die umliegenden Gemeinden wurden nicht zerstört. Wären die amerikanischen Truppen hier durchgezogen, hätten sie aber sogar die Panzergräben überwunden, weil ihre Räumpanzer dem deutschen Gerät technisch haushoch überlegen waren und die Gräben einfach hätten zuschieben können.“

Wanderführer Bernd Nienhaus. Foto: Michael Ricks
Foto: Michael Ricks
Die Aufnahme aus dem Gemeindearchiv Roermond zeigt, wie Gruppen von Zwangsarbeitern 1944 mit Schubkarren, Schaufeln und Spaten in den Wald geschickt wurden, um dort Panzergräben auszuheben.

Kriegsgeschichten mitten in friedlicher Natur

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, solche Geschichten mitten in der weitläufigen, unberührten Natur- und Tierwelt des Naturschutzgebiets zu hören, wo Wacholderbüsche, Besenheide und Moorlilien wachsen und Schlingnattern, Zwergtaucher, Schmetterlinge, Dachse, Füchse, Rehe und Bussarde ein Zuhause gefunden haben. Unter anderem erinnert Bernd Nienhaus an den gewaltsamen Tod fünf ukrainischer Frauen ganz in der Nähe. Ihr „Vergehen“, Mundraub: „In Elmpt haben die Bauern in ihren Fenstern für die vorbeiziehenden Arbeiter Brot ausgelegt. Das hat ein übereifriger Soldat mitbekommen und zwei Gendarmen gemeldet. Einer weigerte sich, das als Verbrechen zu ahnden. Der andere sah das als Mundraub an, was in diesen Zeiten einem Kriegsverbrechen gleichkäme. Daraufhin wurden die Frauen in Niederkrüchten im Varbrooker Wald erschossen.“ Ein Gedenkstein in der Nähe der B 221 erinnert an die Gräueltat.

Ein Stück weiter fällt an einer Weggabelung ein Mahnmal auf, dessen Geschichte dahinter nicht minder aufrüttelt. Es erinnert an das wohl schrecklichste Ereignis in der Gegend. Unser wandernder Geschichtslehrer weiß: „Es war in der Nacht vom 26. auf den 27. Dezember 1944. Damals verlangte der Chef der Besatzungstruppen in Roermond, ein deutscher Major, dass sich viele niederländische Männer bereitstellen sollten, um hier zu ,schanzen‘. Aber es meldete sich kaum jemand. Daraufhin trieb der Major 14 Roermonder Bürger und einen Polen in den Wald und ließ sie von deutschen Wehrmachtssoldaten standrechtlich erschießen. Danach meldeten sich Unmengen an Männern, weil sie Todesangst hatten.“

Um diese Tat im kollektiven Gedächtnis wachzuhalten, organisiert das niederländische „Comité Voettocht 30 December“ jedes Jahr am 30. Dezember von Roermond aus einen Fußmarsch („voettocht“) zum Mahnmal am Lüsekamp. Dabei gedenken die mittlerweile rund 300 niederländischen und deutschen Teilnehmer auch der rund 3.000 Jungen und Männern aus Roermond, die zum Arbeitseinsatz nach Deutschland deportiert wurden und viele den nicht überlebt haben. Auf dem Hinweg machen die Wanderer auf niederländischer Seite außerdem Halt am Denkmal „Die vergessenen Kinder von Spik und Maalbroek 1945“. Die Kinder waren damals beim Spielen durch explodierende Kriegsmunition getötet worden.

Während Frank Grusen und ich interessiert Bernd Nienhaus zuhören, kommen zwei Wanderer näher, zwei Brüder aus der Nähe von Heinsberg und Mechernich. Sie hatten durch einen Freund von der Route erfahren und wandern sie jetzt ab. Vorher haben sie sich mit Infomaterial ausgestattet, das auf dem Tourenportal „Outdoor Active“ bereitsteht. Wer es lieber in Papierform hat, bekommt aber auch klassische Karten in Deutsch und Niederländisch.

Kein Baum ist hier älter als 80 Jahre

Wenige Kilometer weiter, am Rand eines breiten, fast vier Meter tiefen Panzergrabens, zwischen Kiefern und Roteichen, überrascht uns der Naturführer mit diesem Hinweis: „Hier ist kein Baum älter als 80 Jahre. Alles wurde erst nach dem Krieg angepflanzt. Mittlerweile versucht man, den Wald vielfältiger und damit klimatisch nachhaltiger zu gestalten, indem man mehr Laubanteil und Arten zulässt wie Rotbuchen, Traubeneiche oder Esskastanien. Sich selbst aussäende 

Birken sorgen zusätzlich für natürliche Verjüngung. Mehr Pflanzenvielfalt erlaubt mehr Diversität, auch in der Tierwelt.“  Hier, oberhalb des ehemaligen Panzergrabens, bittet uns Bernd Nienhaus, die Augen zu schließen und uns vorzustellen, wie dort 50 bis 100 Frauen arbeiteten. Wir hören im Geiste das Geklapper von Spaten und das Hin- und Herfahren vieler Schubkarren. Unser Wanderführer erzählt: „Alles passierte ausschließlich von Hand. Die harte Arbeit in Verbindung mit Unterernährung hat viele Todesopfer gefordert. Wer überlebte, entschied sich, hier zu bleiben, denn man wusste: Kommt man als Kriegsgefangener in den ersten drei Monaten nach Kriegsende in die Sowjetunion zurück, musste man damit rechnen, von Stalin als Deserteur nach Sibirien transportiert oder gar zum Tode verurteilt zu werden.“ Einige von Nienhaus‘ Bekannten sind die Nachkommen ehemaliger Zwangsarbeiter.

Foto: Michael Ricks
Das Mahnmal am Lüsekamp. Foto: Michael Ricks
Das Mahnmal am Lüsekamp. Foto: Michael Ricks
Foto: Michael Ricks

Illegale Mountainbike-Pisten zerstören die Naturdenkmäler

Dann wird ein Ärgernis sichtbar, mit dem Wanderführer und Förster immer wieder konfrontiert werden: Ganz in der Nähe eines ehemaligen Ringstandbunkers, auf dessen Kuppe ein schweres Maschinengewehr installiert wurde, das ringförmig in alle Richtungen schießen konnte, entdecken wir eine wilde Mountainbike-Piste. Der Rest des Verbotsschildes ist noch zu erkennen, auch die ursprünglichen Absperrungen aus Holzbalken. Keine Seltenheit auf unserer Route. Immer mehr Mountainbike-Fahrer kommen in die Wälder und schaffen sich illegale, eigene Pfade – zum Teil durch Areale mit Bodendenkmälern hindurch. „Nach Starkregen kann es dort zu Erosions-schäden kommen, so dass wir befürchten müssen, dass Wälle und Bunker irgendwann verschwinden“, ärgert sich Wanderführer Bernd Nienhaus und schildert, dass das Ausräumen dieses Problems eine Sisyphus-Aufgabe ist: „Anfangs hat der Gemeindeförster Barrieren angelegt und Verbotsschilder aufgehängt. Die wurden oft nach nur 14 Tagen von radikalen Fahrern abgebaut oder abgehängt. So ging das über Wochen.“

Ein Abstecher zum „sprechenden Stein“

Zum Abschluss unserer Wanderungen schauen wir uns den „sprechenden Stein“ in Oberkrüchten an. Auf dem Findling ist neben einer Infotafel ein QR-Code angebracht, über den Interessierte zu einer Audio-Datei gelangen. Dort erfahren sie wie in einem Hörbuch von einem Flugzeugabsturz vom 16. auf den 17. Juni 1943 in Oberkrüchten. Der Bomber der Royal Air Force mit dem Ziel Köln war mitten in ein Wohnhaus gekracht. Auf diese Weise macht der Stein die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs erlebbar und dient der Aufrechterhaltung der so wichtigen Erinnerungskultur. Unter Federführung des Vereins „Liberation Route NRW“ und der „Liberation Route Europe“ (www.liberationroute.com/de/) sind in der Region und darüber hinaus bereits zahlreiche solcher Hörsteine entstanden. Hier kann man den Weg nachverfolgen, den die alliierten Streitkräfte in der Endphase des Zweiten Weltkriegs genommen haben. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf die Befreiung des europäischen Festlands von der nationalsozialistischen Besatzung und auf die Folgen des Zweiten Weltkriegs gelegt.

Aussichtsplattform Lüsekamp. Foto Gemeinde Niederkrüchten
Lüsekamp: Blick auf den Hochwald. Foto: Gemeinde Niederkrüchten
Foto: Michael Ricks
Der „sprechende Stein“ in Oberkrüchten. Foto: Michael Ricks

Die neue Radwanderroute Geschichte erfahren

Die besondere Wander- und Radroute Geschichte erfahren ist in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Brüggen entstanden. Frank Grusen, in Niederkrüchten zuständig für Wirtschaftsförderung, Tourismus und Öffentlichkeitsarbeit, sagt dazu: „Wir wollten eine neue Tour entwickeln, die entlang geschichtlich relevanter Stellen der beiden Nachbargemeinden führt und die wir in den bestehenden Tourenvorschlägen teilweise noch nicht berücksichtigt hatten.”

Der Rundweg zum „Erfahren“ ist rund 27 Kilometer lang und hat einen leichten Schwierigkeitsgrad. Er besteht aus vier Teilstrecken zwischen sechs und 16 Kilometer Länge, die alle auch einzeln gefahren oder gewandert werden können. Neben wunderschöner Natur wie der einzigen Wacholderheide am linken Niederrhein mit ihrem neuen Aussichtsturm erleben Wanderer und Radfahrer auch Relikte des Zweiten Weltkriegs wie ehemalige Panzergräben und einen Bunker, aber auch historische Kulturlandschaften, an denen man ablesen kann, wie die Menschen früher gelebt haben. „Dabei geht es nicht einmal um eine ganz bestimmte Zeit“, betont Frank Grusen. So sind zum Beispiel an einer Stelle im Wald die Überreste ehemaliger Gruben zu erkennen, in denen Flachs verarbeitet wurde. Die Region war bis vor 150 Jahren Flachsland. Die geernteten Flachshalme wurden zum Teil für mehrere Wochen in mit Wasser gefüllten Gruben, den „Flachskuhlen“, fermentiert. Dabei faulten die Pflanzenstängel, und im weiteren Verlauf entstanden Fasern, die zur Flachsgarn- und Leinenherstellung genutzt wurden.

Wacholderheide. Elmpter Schwalmbruch. Foto: Gemeinde Niederkrüchten
Haus Elmpt. Foto: Gemeinde Niederkrüchten
St. Laurentius Elmpt & Hanse Hüske. Foto: Gemeinde Niederkrüchten
Venekotensee. Foto: Gemeinde Niederkrüchten
Flachskuhlen. Foto: Gemeinde Niederkrüchten
Auf dem Galgenberg. Foto: Gemeinde Niederkrüchten

Deutlicher sichtbar sind dagegen architektonische „Hingucker“ wie Haus Elmpt, ein altes Herrenhaus mit Ursprung im 13. Jahrhundert, das heute zwar im Privatbesitz ist, aber zum Beispiel für standesamtliche Trauungen seine Pforten öffnet und ein Gästezimmer beheimatet sowie das weiße Hanse Hüske, in dem immer mal wieder Ausstellungen stattfinden. Der sicherlich bekannteste Punkt auf der Route Geschichte erfahren auf Seiten der Nachbargemeinde Brüggen ist die Burg Brüggen. Wer einmal seine Sinne geschärft und sich vorher informiert hat, der wird auch den ringförmig angelegten Gerichtshügel auf der Gemeindegrenze zwischen Niederkrüchten und Brüggen erkennen, wo im Mittelalter an einem Galgen Urteile vollstreckt wurden.

Infotafeln, direkt an den Bodendenkmälern, gibt es an den meisten Stellen übrigens bewusst nicht. „Wir wollen dadurch verhindern, dass sie durch unnötiges Herumlaufen zerstört werden“, erläutert der Niederkrüchtener Tourismusexperte Frank Grusen und fügt hinzu: „Stattdessen setzen wir auf Onlineplaner und Navigationsdaten, die sich Interessierte vorab herunterladen können.“ Eine Frage allerdings bleibt: Haben wirklich alle Wanderer und Radfahrer den notwendigen Respekt vor den historischen Relikten in der Natur? „Wir hoffen es und behalten das natürlich im Blick.“

NIEDERKRÜCHTEN WANDERROUTEN
NIEDERKRÜCHTEN RADROUTEN

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